Der Vorsitzende des Dachverbands der Gewerkschaften der Arbeitnehmer in Griechenland charakterisierte die Forderungen der Gläubiger als Einladung zum Selbstmord.
In einem Interview mit "Zeit-Online" unterstrich der Vorsitzende der GSEE (Γενική Συνομοσπονδία Εργατών Ελλάδας = Dachorganisation der gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeitnehmer in Griechenland) Herr Giannis Panagopoulos seine völlige Ablehnung der Maßnahmen, welche die Troika und die Gläubiger von Griechenland verlangen. Der Vorsitzende der GSEE argumentiert in dem Interview, dass "das Hilfsprogramm für Griechenland missglückt ist und die Reformen der Troika das Land zerstören":
Frage: Herr Panagopoulos, in Athen streiken heute zehntausende Menschen und protestieren gegen die Lohnkürzungen. Sie sind Vorsitzender der größten Gewerkschaft, der GSEE. Warum befinden sie sich während dieser Situation in Deutschland?
Antwort: Der Streik wurde erst am Montag (06.02.2012) beschlossen. Die Troika versucht offensichtlich, die griechische Regierung zu erpressen anstatt mit ihr zu verhandeln. Um neue Kredite zu erhalten, muss unsere Regierung die Forderungen des IWF, der EZ und der EU akzeptieren. Es ist an der Zeit, dass die öffentliche Meinung in Deutschland erfährt, was wirklich in Griechenland geschieht!
Frage: Gegen welche Forderungen der Troika protestieren Sie?
Antwort: Die internationalen Gläubiger verlangen Kürzungen bei den Löhnen des privaten Sektors. Sie sagen, dass die Löhne generell um 20% bis 30% gesenkt werden müssen, obwohl sie bereits um 14% gekürzt worden sind. Sie wollen jedoch, dass Griechenland sogar auch den Mindestlohn senkt, der sich derzeit auf knapp 10.000 Euro brutto im Jahr beläuft. Werden alle einschlägigen Steuern und Abgaben abgezogen, verbleibt ungefähr die Hälfte, also 5.000 Euro. Die Leute können von ihrem Verdienst nicht mehr leben.
Frage: Ihre Gewerkschaft fordert, dass der 13. und 14. Monatslohn unangetastet bleiben. In Deutschland wundert man sich darüber: Hier zahlen viele Unternehmen nicht einmal einen 13. Monatslohn.
Antwort: Das Thema sind nicht die 13, 14 oder 20 Monatslöhne. Das Thema ist das jährliche Gesamteinkommen. Vergleichen wir das Lohniveau in Griechenland mit dem Niveau der Löhne in ganz Europa, erweist sich, dass der griechische Durchschnittslohn während der Krise von ungefähr 80% auf weniger als 70% des europäischen Niveaus sank. In den unteren Lohnstufen verdienen die Arbeitnehmer in Griechenland sogar nur 52% des durchschnittlichen EU-Lohns Auf der anderen Seite liegen die Preise deutlich über dem europäischen Durchschnitt. In Griechenland bezahlt man derzeit für einen Liter Milch 1,56 Euro.
Frage: Die Gewerkschaften erachten das Sparprogramm als falsch. Was schlagen Sie als Alternative vor?
Antwort: Wir sagen nicht kategorisch "nein". Wir sind auch nicht gegen eine stabilere volkswirtschaftliche Verwaltung, hauptsächlich auf dem öffentlichen Sektor. Ganz im Gegenteil, dies ist dringend erforderlich. Dieser übertriebene Sparzwang zerstört jedoch die Produktivität, nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Teilen Europas. Diese Politik führt direkt in die Rezession und zum Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Frage: Ihr Land ist mit einer ernsthaften wirtschaftlichen Krise konfrontiert.
Antwort: Wir durchschreiten das fünfte Jahr der Rezession. Nicht einmal während der Dauer des Zweiten Weltkriegs begegnete unser Land einer dermaßen anhaltenden und tiefen Wirtschaftskrise. Laut jüngsten Schätzungen wird die griechische Wirtschaft in diesem Jahr nicht um 3,5%, aber um mehr als auch 8% schrumpfen. Die Sparmaßnahmen müssen also mit einem Konjunkturprogramm kombiniert werden - und diesbezüglich haben wir noch nichts Konkretes.
Frage: Wie wird sich in Griechenland der Aufschwung wieder einstellen?
Antwort: Es muss ein kurz-, mittel- und langfristiges Programm der EU für einen größeren wirtschaftlichen Aufschwung geben. Nicht nur in Griechenland, aber auch in den übrigen Staaten der EU muss die Inlandsnachfrage stimuliert werden. Das geht jedoch nicht nur mittels der europäischen Reform- und Solidaritätskassen, wie es Kanzlerin Merkel verlangt. Griechenland kann diese Mittel nicht in Anspruch nehmen, weil zur Finanzierung eines Projekts der interessierte Staat die Hälfte der Gelder selbst aufbringen muss und Griechenland diese Gelder nicht hat. Um es auf einen Punkt zu bringen: Wir verlangen keine Geldgeschenke, sondern mehr Zeit und weniger Druck.
Frage: Deutschland hegt jedoch große Zweifel daran, ob mehr Geld und Zeit ausreichen.
Antwort: Wir erkennen an, was das deutsche Volk und die Arbeitnehmer geleistet haben. Wir erkennen an, dass sie in den letzten 20 Jahren ihre Lohnforderungen sehr eingeschränkt haben. Wenn jedoch von Griechenland verlangt wird, innerhalb von zwei, drei Jahren radikale wirtschaftliche Reformen umzusetzen, kommt dies einer Einladung zum Selbstmord gleich.
Frage: Die Kanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy werfen Griechenland fehlenden Willen zu Reformen vor.
Antwort: Sie haben aber doch bereits eingestanden, dass ihr Rezept zur Bewältigung der Krise falsch war. Wie geht es an, dass in Griechenland trotz aller umgesetzten Reformen nicht eins der gesetzten Ziele erreicht wurde? Wie geht es an, dass auch Portugal auf ein zweites Hilfspaket zusteuert, obwohl es einen großen Teil der Reformen umsetzte? Warum hat Irland erreicht, einem besseren Weg zu folgen, ohne dass drastische Entlassungen und Lohnkürzungen auferlegt wurden?
Frage: Anlass der Krise ist jedoch Griechenland. Welche Fehler erfolgten speziell auf dem privaten Sektor?
Antwort: Es gab viele Fehler. Der Druck zu mehr Reformen ging mit der Eingliederung in die EU und die Währungsunion verloren. Es gab plötzlich Kredite zu niedrigen Zinsen. Es wurde ein trügerischer Wohlstand geschaffen, jedoch ging Zeit für Reformen verloren.
Frage: Trotz der vielen Reformen zögern aber die ausländischen Investoren immer noch, in Griechenland zu investieren, weil sie die ungeheuren Kosten der Bürokratie und der Korruption fürchten.
Antwort: Die Troika sagt, dass der Mindestlohn um 20% bis 30% gesenkt werden muss, damit wir Investoren in das Land ziehen. An dem Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit sind aber nicht übertrieben hohe Löhne, sondern genau die Bürokratie, die Korruption, das Steuerrecht und das Verfahren zur Genehmigung von Unternehmen schuld. Diese Probleme gehen jedoch die griechische Regierung und die Troika nicht wirklich an. Was die Lohnkosten betrifft, liegt Griechenland in der EU auf dem 17. Platz. Dies kann nicht das Problem sein.
Frage: Wird es vorgezogene Wahlen im April oder Mai 2012 geben, falls die Lohnkürzungen beschlossen und das zweite Hilfspaket genehmigt werden sollten? Besteht die Gefahr, dass radikale Parteien gewinnen werden?
Antwort: Die Menschen in Griechenland lehnen das existierende politische System ab. Sie glauben nicht mehr daran, dass die beiden großen Volksparteien eine Lösung für die Probleme des Landes haben. Sollten die Lohnkürzungen tatsächlich erfolgen und wir vorgezogene Wahlen haben, werden diese eine völlige Umgestaltung des Parteisystems bedeuten. Eine Partei allein oder eine Koalition von zwei Parteien wird nicht genug Stimmen für die Bildung einer Regierung konzentrieren können, was das politische System noch mehr destabilisieren wird.